Weihnachten würde diesmal ganz anders werden als in den vergangenen Jahren.
Das letzte Mal hatten wir noch im schicken Neubau-Einfamilienhaus im Grünen gefeiert
- mein Mann, ich und unser kleiner Sohn.
In diesem Jahr würden mein Kind und ich das Fest zu zweit verbringen - in einer winzigen Wohnung im 8. Stockwerk eines
Hochhauses in einer weit entfernten Stadt, wo der Blick aus dem Fenster nicht mehr Wiesen, Bäume und ein paar
Nachbarhäuser, sondern eine Tankstelle, einen Supermarkt und eine viel befahrene Straße zeigte.
In den letzten Jahren hatte sich meine Ehe immer mehr zu einem Albtraum entwickelt.
Bereits wenige Monate nach unserer Hochzeit - ich war damals schon schwanger gewesen - hatte mein Mann auf einmal
seltsamste Verhaltensweisen an den Tag gelegt. Manchmal war er - für Stunden oder sogar Tage - in eine Art
Trancezustand gefallen, in dem er nichts um sich herum wahrzunehmen schien.
Dann wieder war er aus heiterem Himmel aggressiv geworden, hatte mich grundlos beschimpft oder versucht, mir irrsinnige
Vorschriften zu machen, zum Beispiel, wie ich die Tomaten für einen Tomatensalat schneiden sollte (mit Millimeterangabe!)
oder wie viel Butter ich auf mein Brot streichen durfte.
Diese verrückten Phasen waren meist nur aufgetreten, wenn wir allein waren, aber ihre Intensität und Dauer hatten
im Lauf der Zeit immer mehr zugenommen.
Selbst als es mir nach Jahren schließlich gelungen war, meinen Mann zu einer psychiatrischen Therapie zu bewegen, war nichts
besser geworden. Oft hatte ich den Eindruck gehabt, dass er das Interesse der Psychologen und Ärzte an seiner Person
regelrecht genoss, sein Verhalten zu Hause aber war für mich immer beängstigender und unberechenbarer geworden.
Jeden Morgen hatte ich mich bang gefragt, welche Überraschungen der Tag für mich bereithalten würde und hatte
verzweifelt - und natürlich nicht immer erfolgreich - versucht, unserem Sohn, der mittlerweile das Grundschulalter erreicht
hatte, eine möglichst normale und unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Das hatte mich meine gesamte Kraft gekostet.
Wie sehr auch mein Sohn unter der familiären Situation litt, war mir an einem Abend im Advent des vergangenen Jahres
endgültig klar geworden. Als ich ihn zu Bett gebracht hatte, hatte er geflüstert: Mama, du hast doch mal gesagt, dass wir weggehen können, wenn es zu schlimm wird mit dem Papa ...
Und er hatte diesbezüglich auch schon konkrete und nicht ganz uneigennützige Pläne im Kopf gehabt, die mich trotz allen
Unglücks zum Schmunzeln gebracht hatten: Du könntest dir doch, hatte er mit leuchtenden Augen vorgeschlagen, irgendwo Arbeit in einer Eisdiele suchen!
Da hatte ich mir geschworen, dass dies das letzte Weihnachten sein würde, das wir gemeinsam verbringen würden.
Die Feiertage und der Jahreswechsel waren vorüber gegangen und als ich Anfang Januar den Christbaumschmuck im Keller
verstaut hatte, hatte ich ihn fein säuberlich in zwei Teile getrennt:
In eine Schachtel waren die Kugeln, glitzernden Zapfen und bunten Anhänger gekommen, die mein Mann in die Ehe gebracht
hatte, in eine andere der Weihnachtsschmuck, der mir gehörte.
Obenauf in meine Schachtel hatte ich die Plätzchen-Ausstechförmchen, die noch von meiner Oma stammten,
gepackt. Dann hatte ich die Schachtel zu einer Freundin gebracht, die mir erlaubt hatte, einen Raum ihres großen
Hauses für die kommenden Monate als Lager zu benutzen.
Nach dieser Tat war etwas geschehen:
In meine Erschöpfung und meine Verzweiflung hatten sich ein Funke Hoffnung und neue Lebenskraft geschlichen.
Ich hatte gespürt, dass ich an meiner Situation etwas ändern konnte - den ersten Schritt dazu hatte ich bereits getan.
In den folgenden Monaten war eins zum anderen gekommen.
Nach und nach hatte ich Kleidung und diverse andere Utensilien bei meiner Freundin eingelagert.
Dann hatte ich von einem Bekannten erfahren, dass mein ehemaliger Chef in einer ein paar hundert Kilometer entfernten
Stadt eine Firmenfiliale eröffnen würde. Ich hatte mich beworben und eine Stelle bekommen, die ich im Herbst würde
antreten können. Es war freilich keine Arbeit in einer Eisdiele, aber eine unbefristete Stelle in meinem erlernten Beruf,
von der wir würden leben können.
Zu Beginn der Sommerferien war es dann so weit gewesen:
Ich hatte meinem Mann eröffnet, dass ich ihn verlassen würde.
Die darauf folgenden Szenen waren, obwohl psychologisches Fachpersonal zugegen gewesen war, dramatisch gewesen.
Er war komplett durchgedreht, Polizei und Notarzt waren zum Einsatz gekommen, kurz - es war schrecklich gewesen - aber
nun war es vorbei.
Ich hatte zusammen mit meinem mittlerweile achtjährigen Sohn einen neuen Anfang gemacht.
Die Umstellung auf das neue Leben war nicht ganz leicht gewesen.
Der Kleine hatte sich an eine neue Schule, neue Klassenkameraden und die nachmittägliche Betreuung im Hort gewöhnen
müssen. Ich musste nun Arbeit, Haushalt und Erziehung unter einen Hut bringen, was bisweilen recht anstrengend war.
Aber wir hatten in den vergangenen Monaten auch viel Schönes erlebt:
Gemeinsam hatten wir die neue Stadt erkundet, in der es weitläufige Parks, tolle Spiel- und Minigolfplätze, Museen und ein
großes Kino gab.
Und nun stand Weihnachten vor der Tür. Unsere kleine Wohnung war bereits adventlich geschmückt und wir begannen,
das Weihnachtsfest vorzubereiten.
Einen Christbaum mussten wir natürlich haben. Wir besaßen kein Auto, um einen Baum zu transportieren, aber
glücklicherweise gab es ganz in der Nähe ein Gartencenter, in dem Weihnachtsbäume in allen Größen angeboten wurden.
Wir marschierten also hin und erstanden einen schönen Baum, der in ein Netz verpackt wurde und sich so gut tragen ließ.
Einen Ständer dafür benötigten wir selbstverständlich auch. Mama, mit Christbaumständern kenne ich mich aus!, verkündete mein Sohn eifrig, als wir vor einer stattlichen
Auswahl von Weihnachtsbaumständern standen. Mit fachmännischer Miene wählte er einen aus. Das ist der Beste, den nehmen wir!
Da mein Wissen über mit Christbaumständer sehr beschränkt ist, fügte ich mich seiner Wahl.
Dann lockte den Kleinen die Abteilung mit Weihnachtsbeleuchtung und Krippenzubehör, wo er eine bunte Lichterkette zum
Übers-Bett-hängen erbettelte und auch beschloss, noch vor dem Fest selbst eine Krippe zu basteln.
Wieder zu Hause angekommen, ging die Planung für den Heiligen Abend weiter.
Zu Essen würde es - wie jedes Jahr - Würstchen mit Kartoffelsalat geben, das war schnell entschieden.
Wie jedes Jahr würden wir auch den Gottesdienst besuchen.
Die Christvesper am frühen Abend für die Großen war okay, fand mein Sohn.
Für die Kinder-Weihnachtsandacht, die am frühen Nachmittag stattfand, sei er ja nun mit seinen acht Jahren zu groß.
Und dann hatte er noch eine Idee: Dass wir nur zu zweit sind, macht nichts, Mama!, verkündete er. Meine Stofftiere können mitfeiern - die müssen aber dann auch Geschenke bekommen!
Also verbrachten wir die Tage vor dem 24. Dezember damit, kleine Utensilien - einen Gummiball, ein Spielzeugauto sowie die
Innereien von Überraschungseiern - als Geschenke für den großen Teddy, den braunen Plüschhund, den weißen
Plüschhund, den orangen Plüschhund, den kleinen Elch und den Seehund zu verpacken.
Nebenbei verwirklichte mein Sohn seine Vorstellung von seiner selbst gebastelten Krippe.
Aus Holzresten nagelte er ein hüttenähnliches Gebilde zusammen, das er mit roter Farbe anpinselte.
Darin nahmen sich meine alten, noch von meiner Mutter aufwändig bekleideten Krippenfiguren mit ihren feinen
Wachsgesichtern auf den ersten Blick recht seltsam aus. Sie selbst schienen sich, ihren Mienen nach zu urteilen, in der
neuen Behausung jedoch ganz wohl zu fühlen.
Und dann war er da, der Heilige Abend.
Die ersten Stunden vergingen mit letzten Lebensmitteleinkäufen und dem Aufstellen und Schmücken unseres Christbaums.
Dann machten wir uns mit dem Bus auf den Weg in die Innenstadt, wo wir in der hell erleuchteten und weihnachtlich
geschmückten Kirche einen Platz ganz vorne ergatterten.
Der Gottesdienst nahm seinen Lauf, ohne dass mein Sohn ungeduldig auf seinem Platz herum gerutscht wäre oder ständig
gefragt hätte, wie lange es denn nun noch dauere.
Ich entspannte mich und genoss die besinnliche Atmosphäre und das Singen der Weihnachtslieder.
Auch auf dem Nachhauseweg - wir mussten ziemlich lange auf den Bus warten - nörgelte er zu meiner Verwunderung nicht.
Stoisch trat er von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten.
Zu Hause bereitete ich das Abendessen zu, das wir bei Kerzenschein in der Küche verzehrten.
Und dann endlich kam der Höhepunkt des Abends.
Im Wohnzimmer wartete schon der geschmückte Baum.
Wir entzündeten die Kerzen, legten eine Kinder-CD mit Weihnachtsliedern ein und sahen eine Weile in den Lichterschein,
bevor der Kleine verkündete, dass wir nun aber unbedingt die Geschenke auspacken müssten.
Und so machten wir es.
Die Stofftiere wurden aus dem Kinderzimmer geholt, jedes bekam sein Geschenk und sie freuten sich.
Dann öffneten wir das Päckchen, das von der Oma gekommen war.
Darin waren Bücher und Süßigkeiten. Mein Sohn schenkte mir eine kleine Holzschachtel, die Brausebonbons enthielt und
deren Deckel er mit bunten Perlen und Wollresten phantasievoll beklebt hatte. Ich bewunderte sie gebührend.
Er selbst bekam sein Wunschgeschenk:
Einen ferngesteuerten Lego-Dinosaurier. Sogleich vertiefte er sich mit Begeisterung in die Bauanleitung und bald war der
Wohnzimmerboden mit Legosteinen übersät. Ruhe kehrte ein.
So machte ich es mir mit einem Buch und einem Glas Rotwein im Sessel neben dem Weihnachtsbaum gemütlich.
Zwei Stunden später waren die Lego-Häufchen auf dem Fußboden merklich geschrumpft.
Der Dinosaurier machte bereits erste ferngesteuerte Schritte und gab dabei schauerliche Geräusche von sich, die meinen Sohn
in helles Entzücken versetzten. Mama, sagte er, und sah mich mit strahlenden Augen an, das ist das schönste Weihnachten, das wir jemals gefeiert haben!
Mein Blick fiel auf unsere kleine Krippe unter dem hell erleuchteten Baum mit dem Jesuskind und Maria und Josef in ihrer roten
Behausung.
Nein, es kam an Weihnachten wirklich nicht darauf an, dass die Umgebung perfekt war.
Wichtig war, dass man ein Zuhause hatte, das Schutz, Sicherheit und Raum zum Aufatmen bot.
Und dass es dort genügend Licht gab - Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft.